Image
Hero Banner Simple

Schwere Aplastische Anämie (sAA)

1. Pathophysiologie

Aplastische Anämien sind eine uneinheitliche Gruppe von Knochenmarksinsuffizienzen, welche durch Zytopenien einer oder mehrerer Blutzelllinien charakterisiert sind.1 Dem einher geht ein hypozelluläres Knochenmark (verringerte Anzahl an HSCsa/HPCsb), bedingt durch eine autoimmune Reaktion gegen das Knochenmark (Abbildung 1), ohne abnormales Infiltrat oder Knochenmarksfibrose.2

 

Abbildung 1: Vereinfachte Darstellung der Pathophysiologie der aplastischen Anämie (adaptiert nach 3)

Image
Small


a. hämatopoetische Stammzellen (hematopoetic stem cells) 
b. hämatopoetische Vorläuferzellen (hematopetic progenitor cells)

 

2. Epidemiologie

Die Inzidenz der aplastischen Anämie beträgt in Mitteleuropa etwa 2–3 pro 1 Millionen Einwohner pro Jahr. Eine erworbene aplastische Anämie kann in jedem Lebensalter auftreten. Eine Häufung tritt zwischen 10 und 25 Jahren und bei über 60-Jährigen auf. Es besteht keine Geschlechtsprädilektion.1

 

3. Symptome

Die Symptome der aplastischen Anämie ergeben sich aus der Bi- oder Panzytopenie (Abbildung 2) und zeigen sich unter anderem als:
 

  • Anämie 

  • neutropenische Infektion (Mund- und Rachenulzera, nekrotisierende Gingivitis oder Tonsillitis, Pneumonien, Phlegmone) 

  • Blutungen vom thrombozytopenischen Blutungstyp

 

Abbildung 2: Symptome bei der schweren aplastischen Anämie19

Image
Small

 

4. Diagnostik und Klassifikation

Für die Diagnose der aplastischen Anämie wird das Blutbild und das Knochenmark analysiert (Tabelle 1-3).1 Die Klassifikation der aplastischen Anämie erfolgt auf Basis der Blutwerte, wobei jeweils zwei der drei Kriterien erfüllt sein müssen (Tabelle 3).1 Unterschieden wird zudem in eine idiopathische Form, bei der keine auslösende Ursache erkennbar ist, eine vererbte Form und eine sekundäre Formen, welche induziert ist, z. B. durch Strahlung, Medikamente (z.B. Busulfan), virale Infektionen (z.B. Hepatitis) oder Immunerkrankungen (z.B. systemischer Lupus erythematodes).4,5 Etwa 70-80% der aplastischen Anämien sind primär, etwa 15-20% vererbt und etwa 10-15% sekundär.4,5

 

Tabelle 1: Eigenschaften den Knochenmarks bei aplastischer Anämie (adaptiert nach 4)

 

Probe

Eigenschaft

Knochenmark-aspirat

Kann ohne Thrombozytenunterstützung durchgeführt werden, unter der Bedingung, dass ein geeigneter Oberflächendruck appliziert wird6, sogar bei schwerer Thrombozytopenie. Schwierigkeiten Fragmente zu erhalten kann auf eine Knochenmarksfibrose oder Infiltration hinweisen und sollte den Verdacht auf eine andere Diagnose als aplastische Anämie erwecken. Bei aplastischer Anämie sind die Fragmente und Spuren hypozellular mit prominenten Fett-Bereichen und einer variablen Anzahl residualer hämatopoetischer Zellen. Erythropoese is reduziert oder abwesend; Dyserythropoese ist sehr häufig, oft deutlich und unterscheidet nicht zwischen MDS und aplastischer Anämie. Megakaryozyten und granulozytäre Zellen sind deutlich reduziert oder abwesend. Dysplatische Megakaryozyten und granulozytäre Zellen sind in der aplastischen Anämie nicht sichtbar. Lymphozyten, Macrophagen, Plasmazellen und Mastzellen erscheinen oft prominent. In den frühen Phasen der Krankheit können verstärkt Macrophagen mit wenig Hämophagozytose und eine eosinophile Färbung des Hintergrundes auftreten, was interstitielle Ödeme repräsentiert.

Zytogenetische und FISH Analyse

Eine Karyotypisierung kann bei sehr hypozellulärem Knochenmark mit unzureichenden Metaphasen scheitern. In dieser Situation sollte eine FISH Analyse der Chromosomen 5, 7, 8 und 13 durchgeführt werden. Es wurde zuvor angenommen, dass die Anwesenheit von abnormalen zytogenetischen Klonen eine Diagnose des MDS und nicht der aplastischen Anämie indiziert. Jedoch ist es nun bewiesen, dass abnormale zytogenetische Klone (wie del(13q), Trisomie 8 und andere), welche transient sein können, in bis zu 12% der Patienten mit ansonsten typischer aplastischer Anämie bei Diagnose auftreten können.7,8 Obwohl eine Monosomie 7 bei Kindern für die Möglichkeit des MDS spricht, kann eine Monosomie 7 bei Erwachsenen auch bei der aplastischen Anämie beobachtet werden. Abnormale zytogenetische Klone können im Verlauf der Krankheit auftreten und neue zytogenetische Abnormalitäten können eine klonale Evolution belegen.9

Trepan Knochenmark-biopsie

Eine Trepan Biopsie von mindestens 2 cm und guter Qualität ist essentiell, um die Gesamtzellularität und Morphologie der residualen hämatopoetischen Zellen zu bestimmen und abnormale Infiltrate auszuschliessen. Es sollte darauf geachtet werden eine tangentiale Biopsie zu vermeiden, da subkortikales Knochenmark normalerweise hypozellulär ist. In den meisten Fällen ist die Biopsie Probe durchweg hypozellular; manchmal ist die Hypozellularität ungleichmässig mit sowohl hypozellulären als auch verbleibenden zellulären Bereichen. Eine fokale Hyperplasie von erythroiden und granulozytären Zellen in ähnlichem Stadium der Reife könnte beobachtet werden. Kleine lymphoide Aggregate können auftreten, vor allem in der akuten Phase der Krankheit und wenn die aplastische Anämie mit systemischen autoimmun Erkrankungen assoziiert ist, wie rheumatoide Arthritis oder systemischer Lupus erythematosus. Erhöhte Retikulin Färbung, dysplastische Megakaryozyten (am besten bewertet durch Immunhistochemie) und Blasten sind bei der aplastischen Anämie nicht sichtbar und deren Anwesenheit deutet entweder auf ein hypoplastisches MDS oder die Entwicklung zur Leukämie hin.10


FISH: flurescence in situ hybridisation; MDS: myelodisplastisches Syndrom

 

Tabelle 2: Diagnosetests bei dem Verdacht auf aplastische Anämie (adaptiert nach 4)

 

Image
table


HbF, fetal haemoglobin; GPI, glycerophosphatidylinositol; AA, aplastic anaemia; PNH, paroxysmal nocturnal haemoglobinuria; FLAER, fluorescent aerolysin; EBV, Epstein‒Barr virus; CMV, cytomegalovirus; HIV, human immunodeficiency virus; SCT, stem cell transplantation; IBMFS, inherited bone marrow failure syndromes; MDS, myelodysplastic syndrome; AML, acute myeloid leukaemia; CT, computerized tomography; DC, dyskeratosis congenita; FA, Fanconi anaemia.

 

Tabelle 3: Kriterien für die Diagnose der aplastischen Anämie (adaptiert nach 1)

 

Parameter

Beschreibung

Anmerkungen

Blutbild

Bi-/Panzytopenie

Anämie häufig normozytär / normochrom, manchmal mässig makrozytär und mit unauffälliger Erythrozytenmorphologie Leukozytopenie durch Granulozytopenie und Monozytopenie, häufig keine unreifen granulozytären Vorstufen im Blut Fehlen von Riesenthrombozyten im Blutausstrich

Knochenmark

Aplasie oder Hypoplasie Zellularität <25 % in der Histologie ohne Infiltration mit neoplastischen Zellen ohne Fibrose

Knochenmarkaspirat und Knochenmarkbiopsie obligat Biopsielänge mindestens 15 mm nicht selten fleckförmige Verminderung der Markzelldichte, „fleckförmige Panmyelopathie“, erythropoetische „hot spots“

Tabelle 4: Klassifikation der aplastischen Anämie (adaptiert nach 1)

 

Kriterium

nSAA

SAA2

vSAA1

neutrophile Granulozyten

<1,2 x109/L

<0,5 x109/L

<0.2 x109/L2

Thrombozyten

<70 x109/L

<20 x109/L

<20 x109/L

Retikulozyten

<60 x109/L

<20 x109/L

<20 x109/L


nSAA: mässig schwere aplastische Anämie (non-severe aplastic anemia), SAA: schwere aplastische Anämie (severe aplastic anemia), vSAA: sehr schwere aplastische Anämie (very severe aplastic anemia). 

1 Für die Klassifikation als vSAA muss das Granulozytenkriterium <0,2 x109/L obligat erfüllt sein. 2 Für die SAA und vSAA muss zusätzlich ein hypozelluläres Knochenmark (histologisch ermittelte Zellularität <25% oder 25-50% bei einem Anteil von <30% hämatopoetischen Zellen im Knochenmark) erfüllt sein, für die nSAA genügt der Nachweis eines hypozellulären Knochenmarks.

 

Eine aplastische Anämie teilt sich viele diagnostische und pathophysiologische Charakteristika mit anderen Krankheiten.18 Daher müssen unter anderen folgende Erkrankungen differentialdiagnostisch berücksichtigen werden beziehungsweise mittels gezielter Diagnostik ausgeschlossen werden:
 

  • hypoplastische akute Leukämie 

  • (hypoplastisches) myelodysplastisches Syndrom 

  • Haarzell-Leukämie und andere Lymphome 

  • Knochenmarkinfiltration durch solide Tumoren 

  • Osteomyelofibrose 

  • Hypersplenismus 

  • schwere megaloblastäre Anämie 

  • Anorexia nervosa 

  • systemischer Lupus erythematodes 

  • paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie 

  • isoliert aplastische Anämie ("pure red cell aplasia") 

  • Aplasie nach Chemotherapie oder Strahlentherapie 

  • Chromosomenbrüchigkeit für Fanconi-Anämie (FA) 

  • Telomerlängenbestimmung für eine Dyskeriatosis congenita (DKC) 

  • IBMFS (inherited bone marrow failure syndrome)

 

5. Behandlung

Ziel der Behandlung der aplastischen Anämie ist die Induktion einer Remission und damit die Verhinderung der Gefährdung durch Blutungen und durch neutropene Infektionen sowie Vermeidung von chronischer Transfusionsbedürftigkeit mit dem Risiko der Eisenüberladung und der Allosensibilisierung.1 Der Therapiealgorithmus ist in Abbildung 4 dargestellt. 

Bei der erworbenen Aplastischen Anämie hat die Klassifikation keine prognostische bzw. therapeutische Relevanz. Bei Nachweis einer Dyskeriatosis congenita oder Fanconi Anämie, die sich selten auch bis in die die 5.-6. Lebensdekade als aplastische Anämie erstmanifestieren können, unterscheidet sich insbesondere das Vorgehen im Hinblick auf eine allogene Stammzelltransplantation sowohl im Hinblick auf den Empfänger (Konditionierungsregime, zu erwartende Toxizität, etwaige zusätzliche Vorbehandlungsoptionen, zugrunde liegende Multisystemerkrankung s.u.) als auch auf den Spender (Spenderauswahl, Screening von Familienspendern). Eine weitere Ausnahme stellt die medikamentös-induzierte aplastische Anämie dar. Bei Verdacht auf Auslösung einer aplastischen Anämie durch Medikamente sollten diese abgesetzt werden und lebenslang eine Reexposition vermieden werden. Medikamente, für welche die Auslösung einer aplastischen Anämie nachgewiesen wurde oder zumindest vermutet wird, sind unter anderem antiinflammatorische Substanzen (Gold, Penicillamine, Phenylbutazone, Diclofenac, Indomethacin), Antikonvulsiva (Phenytoin, Carbamazepin), Thyreostatika (Carbimazol, Thiouracil), Antidiabetika (Tolbutamid), Malariamittel (Chloroquin), Antibiotika (Sulphonamide, Cotrimoxazol, Chloramphenicol).1

 

Abbildung 4: Therapiealgorithmus bei der aplastischen Anämie (adaptiert nach 1)

Image
Small

 

Referenzen

  1. Schrezenmeier H et al. Onkopedia Leitlinien: Aplastische Anämie. (Stand November 2022); https://www.onkopedia.com/de/onkopedia/guidelines/aplastische-anaemie/@@guideline/html/index.html (Letzter Zugriff am 26.07.2023). 

  2. Townsley DM et al. Pathophysiology and management of thrombocytopenia in bone marrow failure: possible clinical applications of TPO receptor agonists in aplastic anemia and myelodysplastic syndromes. Int J Hematol. 2013; 98(1): 48–55. 

  3. Boddu PC et al. Molecular pathogenesis of acquired aplastic anemia. European Journal of Haematology. 2019; 102(2): 103–10. 

  4. Killick SB et al. Guidelines for the diagnosis and management of adult aplastic anaemia. British Journal of Haematology. 2016; 172(2): 187–207. 

  5. Dokal I et al. Inherited aplastic anaemias/bone marrow failure syndromes. Blood Rev. 2008; 22(3): 141–53. 

  6. British Committee for Standards in Haematology, Blood Transfusion Task Force. Guidelines for the use of platelet transfusions. Br J Haematol. 2003; 122(1): 10–23. 

  7. Gupta V et al. Clinical relevance of cytogenetic abnormalities at diagnosis of acquired aplastic anaemia in adults. Br J Haematol. 2006; 134(1): 95–9. 

  8. Afable MG et al. Clonal evolution in aplastic anemia. Hematology Am Soc Hematol Educ Program. 2011; 2011: 90–5. 

  9. Maciejewski JP et al. Distinct clinical outcomes for cytogenetic abnormalities evolving from aplastic anemia. Blood. 2002; 99(9): 3129–35. 

  10. Bennett JM et al. Diagnostic criteria to distinguish hypocellular acute myeloid leukemia from hypocellular myelodysplastic syndromes and aplastic anemia: recommendations for a standardized approach. Haematologica. 2009; 94(2): 264–8. 

  11. Brown KE et al. Hepatitis-associated aplastic anemia. N Engl J Med. 1997; 336(15): 1059–64. 

  12. Wolf T et al. First case of successful allogeneic stem cell transplantation in an HIV-patient who acquired severe aplastic anemia. Haematologica. 2007; 92(4): e56-58. 

  13. Hapgood G et al. Immune-mediated cytopenias in human immunodeficiency virus: the first reported case of idiopathic aplastic anaemia successfully treated with immunosuppression. Intern Med J. 2013; 43(4): 452–5. 

  14. Mishra B et al. Human parvovirus B19 in patients with aplastic anemia. Am J Hematol. 2005; 79(2): 166–7. 

  15. Townsley DM et al. Bone marrow failure and the telomeropathies. Blood. 2014; 124(18): 2775–83. 

  16. Kulasekararaj AG et al. Somatic mutations identify a subgroup of aplastic anemia patients who progress to myelodysplastic syndrome. Blood. 2014; 124(17): 2698–704. 

  17. Afable MG et al. SNP array-based karyotyping: differences and similarities between aplastic anemia and hypocellular myelodysplastic syndromes. Blood. 2011; 117(25): 6876–84. 

  18. Young NS. Aplastic Anemia. New England Journal of Medicine. Massachusetts Medical Society; 2018; 

  19. https://www.onmeda.de/krankheiten/aplastische-anaemie-id202725/ (last accessed 08. Aug 2023)