Myelodysplastisches Syndrom
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Myelodysplastisches Syndrom

1. Pathophysiologie

Myelodysplastische Syndrome (MDS) bilden eine heterogene Gruppe von klonalen Erkrankungen der hämatopoetischen Stammzellen, die durch Zytopenien sowie Dysplasien von Blut- und Knochenmarkzellen gekennzeichnet sind.1 Was die Pathogenese der MDS betrifft, kommt es in hämatopoetischen Stammzellen zur stochastischen Akkumulation von genetischen Schäden wie chromosomale Aberrationen und Mutationen der DNA-Sequenz.1

Ursache hierfür können extrinsische Faktoren wie Strahlung, Chemotherapie, zytotoxische Medikamente, Toxine oder Rauchen sein.2 Hinzu kommen intrinsische Defizite bei der Reparatur von DNA-Läsionen, eine reduzierte Tumorimmunität sowie ungünstige Bedingungen in der Mikroumgebung des Knochenmarkes, die häufig in höherem Alter vorkommen.2

Vermutlich führt dies zur Selektion von malignen Stammzellen, die das Knochenmark mit ihren Vorläuferzellen zunehmend klonal besiedeln und die gesunde Hämatopoese dabei verdrängen.1 Im weiteren Verlauf wird das Immunsystem durch die Zunahme der Tumorlast und komplexen Veränderungen in der Mikroumgebung des Knochenmarkes geschwächt (Immunsubversion), was die klonale Expansion zusätzlich fördert und letztlich in einer sekundären akuten myeloischen Leukämie (AML) resultieren kann (Abbildung 1).

Abbildung 1 Klonale Evolution und Pathogenese der MDS bzw. sAML.

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Abkürzungen: CHIP: klonale Hämatopoese mit unbestimmtem Potential; CTX/RT: Chemo-/Radiotherapie; DNMT3A, RUNX1, FLT3: verschiedene Punktmutationen; MDS: Myelodysplastisches Syndrom; sAML: sekundäre akute myeloische Leukämie (adaptiert nach2,3).

 

Im letzten Jahrzehnt wurden zahlreiche neue Mutationen identifiziert, die bei MDS-Patientinnen und Patienten häufiger, aber nicht exklusiv vorkommen. Hierbei handelt es sich – neben zahlreichen chromosomalen Veränderungen – hauptsächlich um Punktmutationen in Genen des Splicingapparats (z. B. SF3B1, SRSF2, ZRSR2, U2AF1), der Regulatoren epigenetischer Modifikationen (z. B. DNMT3A, TET2, ASXL1, IDH1/2, EZH2), der Transkriptionsfaktoren (z. B. RUNX1, ETV6, CEBPalpha, GATA2) und anderer Zellsignale (z.B. TP53, NPM1, FLT3, JAK2, RAS).1,4 Bei knapp 90% aller MDS-Patientinnen und Patienten lässt sich mindestens eine der bislang bekannten Mutationen nachweisen.4

 

2. Epidemiologie und Ursachen

Myelodysplastische Syndrome zählen zu den häufigen hämatologischen Neoplasien, wobei das mediane Erkrankungsalter bei ca. 75 Jahren liegt.1,2 

In der Schweiz erkrankten zwischen 2001 und 2007 jedes Jahr durchschnittlich 263 Menschen an MDS, während zwischen 2008 und 2012 die jährliche Fallzahl bei 316 lag.5 Dies entspricht einem Anstieg der Fallzahlen zwischen beiden Perioden von 20%. 

Dieser ist hauptsächlich auf die bessere Diagnostik und demografische Alterung zurückzuführen, da die altersstandardisierten Inzidenz- und Mortalitätsraten mit 2,5 bzw. 1,1 pro 100'000 Patientenjahren im Wesentlichen stabil blieben.

Die Inzidenz bei Männern ist höher als bei Frauen und nimmt mit dem Alter stark zu (Abbildung 2).1,2 Insgesamt starben im Zeitraum zwischen 2008 und 2012 jährlich 153 Patienten an einem Myelodysplastischen Syndrom, wobei die Überlebensrate fünf Jahre nach der Diagnose bei etwa 30% lag.5

Abbildung 2 Altersspezifische Inzidenzen von MDS bei Schweizer Patientinnen und Patienten (adaptiert nach5).

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Ätiologisch werden primäre und sekundäre Formen der MDS unterschieden.1 Bei primärer MDS lässt sich kein exogener Auslöser der Erkrankung sicher nachweisen.1 Dies betrifft etwa 90% der Fälle.1 Bei einer sekundären MDS ist der Auslöser der Erkrankung hingegen bekannt.1 So können die Blutbildveränderungen nach vorangegangener Bestrahlungs- und/oder zytotoxischer Chemotherapie auftreten.1 Insbesondere bei Behandlung mit Alkylanzien in Kombination mit einer Radiotherapie ist das Risiko für MDS erhöht.1 Auch eine langjährige Exposition der Betroffenen gegenüber benzolhaltigen Stoffen oder anderen organischen Lösungsmitteln kann zu MDS führen.1

 

3. Symptome

Das Krankheitsbild der MDS ist sehr heterogen.2 So variiert der Krankheitsverlauf von chronisch asymptomatischer oder minimal symptomatischer Zytopenie bis hin zur schnellen Progression in Richtung AML.2 MDS können mit sehr vielfältigen Symptomen einher gehen, je nachdem welche Blutzellreihen von einer Zytopenie bzw. Dysplasie betroffen sind:6 Ist die Zahl der Erythrozyten vermindert und dadurch das Hämoglobin erniedrigt, leidet die Patientin oder der Patient an Symptomen der Anämie (ca. 70–80% der Fälle) und fühlt sich müde, abgeschlagen und in der körperlichen Leistungsfähigkeit eingeschränkt (Fatigue).6 Die Lebensqualität kann dadurch bedeutend eingeschränkt sein.1 Weitere typische anämiebedingte Symptome sind z. B. Atemnot (insbesondere bei Belastung), Herzrasen und Kopfschmerzen.1 Sind die Leukozyten betroffen, dann entwickeln die Patientinnen und Patienten häufiger Infektionen, vor allem des Bronchial- und Urogenitalsystems oder der Haut.1,6 Oft beobachtet man auch ungewöhnliche autoinflammatorische und autoimmunologische Phänomene, als Ausdruck der Immundysregulation.7 Bei schwerer Neutropenie besteht ein erhöhtes Risiko für eine bakterielle Blutvergiftung, die lebensbedrohlich verlaufen kann (Sepsis).6 Ist die Zahl der Thrombozyten vermindert oder deren Funktion gestört, kommt es bei den betroffenen Patientinnen und Patienten häufiger zu Blutungen.6 Typisch sind Blutungen der Haut und Schleimhaut mit Petechien, Suffusionen oder grösseren Hämatomen bereits nach Bagatelltraumata.1 Bei 10% der MDS- Patientinnen und Patienten entwickeln sich schwere innere Blutungen, z. B. im Gastrointestinaltrakt.1

 

4. Diagnostik

Leitbefund einer MDS ist meist eine hyporegeneratorische Anämie, oft liegt aber auch eine Bi- oder Panzytopenie vor.1 Diagnostisch wegweisend sind Dysplasien einer oder mehrerer Zellreihen, wobei ≥10% der Zellen einer Reihe eindeutige Dysplasiezeichen aufweisen müssen, damit gemäss WHO Klassifikation die Diagnose eines MDS gestellt werden kann.1 Aktueller Goldstandard in der MDS-Diagnostik sind zytomorphologische Untersuchungen des peripheren Blutes und Knochenmarks in Kombination mit der Zytogenetik (Tabelle1). Zusätzlich spielt auch die Histologie eine wichtige Rolle, um die räumliche Verteilung der Hämatopoese und den Fibrosegrad im Knochenmark beurteilen zu können.1

 

Tabelle 1 Erforderliche Untersuchungen des peripheren Blutes und Knochenmarks zur Diagnose eines MDS.

 

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Abkürzungen: FISH: Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung; Array-CGH: Microarray Comparative Genomic Hybridisation; HLA: Humane Leukozytenantigene; LDH: Laktat-Dehydrogenase; SF3B1: Spleissfaktor 3B-Untereinheit 1 (adaptiert nach 1).

 

Bestimmt werden die Anzahl der von Zytopenie und Dysplasie betroffenen Blutzellreihen, das Vorhandensein von Ringsideroblasten bzw. von Mutationen im SF3B1 Gen (Korrelation mit dem Nachweis von Ringsideroblasten), der periphere und medulläre Blastenanteil und das Vorhandensein spezifischer oder MDS-definierender zytogenetischer Veränderungen wie del 5q.2 Mit Hilfe dieser Parameter kann dann eine Klassifizierung des MDS gemäß WHO erfolgen (Tabelle 2).1,8 

Darüber hinaus ist bei jedem MDS-Patienten und jeder MDS-Patientin eine Risikostratifizierung erforderlich.2 Es gibt Scoring-Systeme, um das Progressions- und Mortalitätsrisiko bei MDS abzuschätzen.2 Dazu gehören das International Prognostic Scoring System (IPSS) und das überarbeitete IPSS (IPSS-R), welche die Anzahl der medullären Blasten, das durch zytogenetische Veränderungen bedingte Risiko sowie die Anzahl und den Schweregrad der drei wichtigsten von der Zytopenie betroffenen Zelllinien berücksichtigen.9 Patientinnen und Patienten mit geringerem Risiko überleben im Median drei bis acht Jahre und sterben vor allem an nicht-leukämischen Ursachen, die mit den Auswirkungen der Zytopenie auf die Komorbiditäten zusammenhängen.2 Die Behandlung zielt daher auf eine Verbesserung der Lebensqualität ab, kann aber auch eine Progression verzögern.2 MDS-Patientinnen und Patienten mit höherem Risiko haben eine mediane Überlebenszeit von einem bis drei Jahren und sterben überwiegend am Fortschreiten der Erkrankung hin zu einer sekundären AML.2 Die Therapie dieser Patientinnen und Patienten sollte zum Ziel haben, diese Progression zu verzögern und das Überleben zu verlängern.2

 

Tabelle 2 WHO-Klassifikation Myelodysplastischer Syndrome.

 

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Legende: 1falls SF3B1 mutiert; 21% periphere Blasten müssen zu 2 verschiedenen Zeitpunkten beurteilt werden; 3Fälle mit ≥15% Ringsideroblasten haben definitionsgemäss eine signifikante Dyserythropoese und gelten daher als MDS mit Ringsideroblasten und Einliniendysplasie (adaptiert nach1,8).

 

5. Behandlung

Generell sollte ein erfahrener Arzt oder eine erfahrene Ärztin MDS-Patientinnen und Patienten mit symptomatischer Zytopenie beurteilen.2 Dies ist wichtig, da die Erkrankung sehr komplex ist, eine Reihe von Komorbiditäten den Verlauf beeinträchtigen können und Patientinnen und Patienten ausgewählt werden müssen, die für den einzigen kurativen Ansatz der allogenen Stammzelltransplantation in Frage kommen.2 Was die Therapien selbst betrifft, muss zwischen MDS-Patientinnen und Patienten mit geringerem und mit höherem Risiko unterschieden werden.

 

MDS-Patientinnen und Patienten mit geringerem Risiko


Weisen diese Patientinnen und Patienten eine asymptomatische Zytopenie auf, müssen sie zunächst nicht behandelt, sondern können im Rahmen einer «Watch-and-Wait-Strategie» regelmässig überwacht werden.2 Wenn eine MDS-Patientin oder ein MDS-Patient Symptome entwickelt, bildet eine adäquate supportive Therapie die Basis der Behandlung. Diese umfasst unter anderem Transfusionen von Erythrozytenkonzentraten, die Gabe von Eisenchelatoren, die bedarfsweise Gabe von Antibiotika, die Therapie mit hämatopoetischen Wachstums- und Differenzierungsfaktoren sowie eine Infektionsprophylaxe.1,2 Ergänzt werden diese Massnahmen durch die Behandlung von ernährungsbedingten, funktionellen und psychosozialen Defiziten.2 Bei bestimmten MDS-Formen können zusätzliche Therapien zum Einsatz kommen, welche die Bildung von reifen Blutzellen unterstützen und dadurch die Transfusionsabhängigkeit minimieren können.6

 

MDS- Patientinnen und Patienten mit höherem Risiko


Bei Hochrisiko-Patientinnen und Patienten sollte zunächst überprüft werden, ob diese – abhängig vom Alter und Gesundheitsstatus – eine allogene hämatopoetische Stammzelltransplantation (HSCT) erhalten können.1 Diese ist nach wie vor die einzige kurative Option für fitte MDS-Patientinnen und Patienten im Alter von bis zu 65–70 Jahren.2 Bei Patientinnen und Patienten mit ≥10% Blasten im Knochenmark ist vor der HSCT eine zytoreduktive Induktionsbehandlung mit einer Chemotherapie indiziert, wie sie auch gegen eine AML eingesetzt wird.2 Für Patientinnen und Patienten , die nicht für eine HSCT in Frage kommen, steht nur die Option einer Therapie mit einer hypomethylierenden Substanz wie Azacitidin zur Verfügung.1,2 Bei Reftrakterität sind die aktuell verfügbaren Optionen sehr limitiert und diese Patientinnen und Patienten qualifizieren für klinische Studien.

 

Referenzen

  1. Onkopedia Leitlinien. Myelodysplastische Syndrome (MDS). Abrufbar unter: https://www.onkopedia.com/de/onkopedia/guidelines/myelodysplastische-syn...@@guideline/html/index.html#ID0EAE (letzter Zugriff am 07. Februar 2022). 

  2. Chanias I, Bonadies N. Current Standard of Care in Patients with Myelodysplastic Syndromes and Future Perspectives. healthbook TIMES Oncology Hematology. 2020;4(6):10-22. doi:10.36000/hbT.OH.2020.06.026 

  3. Steensma DP. Clinical Implications of Clonal Hematopoiesis. Mayo Clin Proc. 2018;93(8):1122-1130. doi:10.1016/j.mayocp.2018.04.002 

  4. Haferlach T, Nagata Y, Grossmann V, et al. Landscape of genetic lesions in 944 patients with myelodysplastic syndromes. Leukemia. 2014;28(2):241-247. doi:10.1038/leu.2013.336 

  5. Bonadies N, Feller A, Rovo A, et al. Trends of classification, incidence, mortality, and survival of MDS patients in Switzerland between 2001 and 2012. Cancer Epidemiol. 2017;46:85-92. doi:10.1016/j.canep.2016.12.005 

  6. Swiss MDS Study Group. Was sind Myelodysplastische Syndrome (MDS)?. Abrufbar unter: https://www.mds-switzerland.ch/patienteninformationen/was-ist-mds/. 

  7. Kipfer B, Daikeler T, Kuchen S, et al. Increased cardiovascular comorbidities in patients with myelodysplastic syndromes and chronic myelomonocytic leukemia presenting with systemic inflammatory and autoimmune manifestations. Semin Hematol. 2018;55(4):242-247. doi:10.1053/j.seminhematol.2018.05.002 

  8. Arber DA, Orazi A, Hasserjian R, et al. The 2016 revision to the World Health Organization classification of myeloid neoplasms and acute leukemia. Blood. 2016;127(20):2391-2405. doi:10.1182/blood-2016-03-643544 

  9. Greenberg PL, Tuechler H, Schanz J, et al. Revised international prognostic scoring system for myelodysplastic syndromes. Blood. 2012;120(12):2454-2465. doi:10.1182/blood-2012-03-420489


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